Als die Gletscher an diesem Berghang schmolzen, bot sich ein erschreckender Anblick

Die heiteren Landschaften des norditalienischen Trentino sind in Zeit und Raum eingefroren und bergen dunkle und düstere Geheimnisse. Als Maurizio Vicenzi eines Tages auf den verschneiten Hängen von San Matteo spazieren geht, bietet sich ihm ein beunruhigender Anblick: drei Leichen baumeln von einer Eiswand.

Die Überreste der drei jungen Männer waren fast 100 Jahre lang unentdeckt geblieben. Ihre Entdeckung war für Vicenzi, der als Bergführer arbeitete und Mitglied einer örtlichen Bergrettungsgruppe war, von besonderer Bedeutung. Außerdem war er Hobbyhistoriker und Leiter eines militärhistorischen Museums. Und seine Familie war in dieselben Ereignisse verwickelt, die den Männern das Leben gekostet hatten.

In einem Gespräch mit der BBC im August 2004 beschrieb Vicenzi den erschreckenden Moment, in dem er über die Leichen stolperte. Er sagte: "Mit einem Fernglas sah ich etwas, das wie ein Fleck auf dem Forni-Gletscher aussah, und ging hin, um nachzusehen. Als ich näher kam, stellte ich fest, dass es sich um die Leichen von Soldaten handelte, die im Gletscher eingefroren waren. So etwas ist in meinem Leben noch nie passiert.

Und die Entdeckung, so Vincenzi, habe Auswirkungen - nicht nur für Militärgelehrte, sondern auch für die Gemeinde Peio und ihre Nachbarn. Er sagte: "Seit Jahrzehnten wurden hier keine Leichen mehr im Eis gefunden... Dies ist eine wichtige Entdeckung aus historischer Sicht und aufregend für die Gemeinden auf beiden Seiten der Grenze."

Noch in den 1970er Jahren war Peio kaum mehr als ein abgelegenes Bauerndorf in den Dolomiten. Heute jedoch lebt der Ort vom Geld der Touristen, die aus Ländern wie Italien und Russland kommen. Man könnte sogar sagen, dass sich Peio zu einem bescheidenen, aber gut etablierten Skigebiet entwickelt hat.

In den Bergen um Peio, die sich steil bis auf fast 3.400 Meter erheben, befinden sich auch alte Gletscher. Aber die Bedeutung der Region ist weit mehr als nur geologisch. In die gefrorenen Weiten liegt ein Netz von Schützengräben aus dem Ersten Weltkrieg gegraben, die bewegende Einblicke in ein wahrhaft grausames Schlachtfeld bieten.

Die Rolle Italiens in diesem Konflikt begann am 23. Mai 1915 mit der Unterzeichnung des Londoner Vertrags. Dabei handelte es sich um ein geheimes Abkommen, das Großbritannien, Russland und Frankreich mit Italien verband. Tatsächlich wurde das Land jedoch von einer nationalistischen Bewegung namens "Unerlöstes Italien" zum Kriegseintritt gedrängt. Die Anhänger dieser Bewegung traten für eine radikale Ausweitung der nationalen Grenzen ein.

So waren beispielsweise das Trentino und das benachbarte Südtirol zu jener Zeit Gebiete der österreichisch-ungarischen Monarchie. Andererseits wurden die Gebiete aber auch von Italien als "unerlöste Gebiete" betrachtet. Der Kampf um die Rückeroberung dieser Gebiete wurde als Weißer Krieg bekannt - ein historisches Ereignis, bei dem eine 18 Kilometer lange Front durch gefrorene Berge errichtet wurde.

Und Peio war von dem Konflikt besonders betroffen, weil seine Bewohner das Dorf nicht verlassen durften. In einem Gespräch mit der britischen Zeitung The Telegraph im Jahr 2013 sagte der Bürgermeister von Peio, Angelo Dalpez: "Der [österreichisch-ungarische] Kaiser verfügte, dass dieses Dorf nicht evakuiert werden sollte. Als höchstgelegenes Dorf des Reiches war es symbolisch - eine Botschaft an den Rest".

Gleichzeitig erforderte die zerklüftete, hochgelegene Geografie des Geländes die Entwicklung einer völlig neuen Art der Kriegsführung. In gewisser Weise waren die Italiener jedoch besser auf den Kampf vorbereitet, da sie bereits über Brigaden speziell ausgebildeter Gebirgssoldaten, der Alpini, verfügten. Die Österreicher hingegen mussten ihre eigenen Gebirgsjäger von Grund auf neu aufstellen. Sie wurden Kaiserschützen genannt.

Doch die Unterscheidung zwischen Alpini und Kaiserschützen war nicht immer eindeutig. Tatsächlich waren viele der in den Weißen Krieg eingezogenen Truppen einfach Einheimische, die sich in den Bergen auskannten. Diese Männer waren daher oft miteinander befreundet - unabhängig davon, auf welcher Seite sie kämpften. Manchmal vertraten zum Beispiel Cousins oder Brüder gegensätzliche Loyalitäten.

Historisch gesehen ist vergleichsweise wenig über den Konflikt bekannt - auch weil sich nur wenige Reporter an die Front wagten. Heute jedoch ziehen sich die Alpengletscher zurück und legen die Leichen der Kriegstoten frei. Historiker und Gerichtsmediziner sind nun dabei, sich ein Bild davon zu machen, was sich in diesem hochgelegenen Kriegsgebiet abgespielt hat.

So haben Ausgrabungen gezeigt, dass beide Seiten unter unglaublich schwierigen Bedingungen komplexe militärische Infrastrukturen nutzten. Die Soldaten hoben Tunnel und Gräben aus, verlegten Kommunikationskabel, bauten Straßen und errichteten Seilbahnen für den Transport von Nachschub. Und auf der Marmolada, dem höchsten Berg der Dolomiten, wurde sogar eine so genannte "Eisstadt" in einen Gletscher gebaut.

Wie in den trostlosen Grabenkämpfen Nordeuropas spielte jedoch auch im Weißen Krieg die Bombardierung mit Artillerie eine zentrale Rolle. In jüngster Zeit haben Bergungsleute und Historiker eine Fülle von Material und Munition aus den Bergen geborgen. Dazu gehören beispielsweise Gewehre, Helme, Gasmasken, nicht explodierte Bomben und Granaten.

Im Jahr 2005 entdeckte Vicenzi zum Beispiel eine Höhle in Punta Linke - einem Ort, der sich fast 2.000 Meter über Peio erhebt. In dieser Höhle fand Vicenzi eine Reihe von militärischen Ausrüstungsgegenständen, darunter Munition und Helme. Bald stellte er jedoch fest, dass sich unter der Höhle eine von Menschenhand geschaffene Struktur befand. Mit Hilfe von Freunden vor Ort begann der Experte, diese zu erforschen.

Zwei Jahre später führte Franco Nicolis vom Amt für archäologisches Kulturgut in Trient eine vollständige Ausgrabung der Stätte durch. Dabei entdeckte er eine aus Holz gebaute Station einer Seilbahn. Der Zugang zur Station erfolgte über einen 30 Meter langen Tunnel, der sich durch den Berg zog. Als Nicolis die Station entdeckte, war sie jedoch voller Eis. Um sie zu räumen, setzte er riesige Ventilatoren ein.

Diese Station diente in der Tat der Lieferung von militärischem Nachschub an die Frontlinie. Die Kisten wurden mit einer Seilbahn nach oben befördert und dann durch den Schacht gepresst. Anschließend wurden sie mit Hilfe einer weiteren freitragenden Seilbahn 1.200 Meter weit befördert. Der gesamte Vorgang konnte durch ein Fenster neben dem Ausgang des Tunnels beobachtet werden.

Im Inneren des Bahnhofs entdeckten Nicolis und sein Team auch einen zerlegten Sendlinger Motor, der in München hergestellt worden war. Die Gruppe fand außerdem eine an die Wand gepinnte Anleitung zum Betrieb der Lokomotive sowie einen Zeitungsausschnitt, der die Warteschlangen für Lebensmittel in Wien zeigte. Im Jahr 1916 wurden die Grundnahrungsmittel in Österreich-Ungarn offenbar immer knapper.

Auf dem Gletscher Corno di Cavento konnte dank der Bemühungen eines örtlichen Alpenvereins eine österreichisch-ungarische Garnison geborgen werden. Dieser Militärposten enthielt Strohbetten, ein Büro des Kommandanten und einen Lagerraum. Die Stätte bietet somit einen seltenen und intimen Einblick in das alltägliche Leben während eines oft übersehenen Kapitels des Ersten Weltkriegs.

Und wie wir gehört haben, wurden durch den Rückzug der Gletscher auch persönliche Gegenstände freigelegt. Beispiele für solche Gegenstände sind Tagebücher von Soldaten, Uniformen, Fotos, Spielkarten, Nähzeug und - vielleicht am herzzerreißendsten - nicht abgeschickte Liebesbriefe. Man könnte also sagen, dass die Schützengräben im Trentino einsame und angstvolle Orte waren - wie an vielen anderen Orten im kriegsgebeutelten Europa auch.

Unter den in der Seilbahnstation Punta Linke geborgenen Gegenständen befand sich eine Postkarte aus Böhmen, die an Georg Kristof, einen Chirurgen des Ingenieurkorps, adressiert war. Sie wurde von seiner Frau verschickt, beschreibt eine schlafende Frau und enthält eine einfache Botschaft in tschechischer Sprache. Diese lautet: "Deine verlassene Geliebte". Ein zärtlicher Brief an eine "Maria" wurde ebenfalls in einem Stapel nicht abgeschickter Briefe gefunden.

Auch den unglücklichen jungen Männern, die in die Berge geschickt worden waren, erging es nicht gut. Rund 150.000 starben in den italienischen Alpen - und nur ein Drittel von ihnen kam im Kampf ums Leben. Der Rest erlag Erfrierungen und Unterkühlungen. Und einige andere waren sogar Erdrutschen und Lawinen zum Opfer gefallen.

Der Forscher Stefano Morosini von der Universität Mailand sprach darüber mit National Geographic. "In den Berichten über diese Zeit, in den Kriegstagebüchern - ob aus Österreich oder aus Italien - finden wir dieselben Geschichten über die schrecklichen Entbehrungen, die durch den Schlafmangel, die Qualen und die massiven Schneefälle verursacht wurden", sagte er. "Der Feind war zweitrangig. Der wahre Gegner war die Natur selbst."

In der Schlacht haben sich beide Seiten zwar heldenhaft engagiert. Doch ihre Fortschritte waren häufig gering und rechtfertigten kaum den Verlust von Menschenleben. Nach mehr als drei Jahren eskalierender Gefechte erwies sich die Schlacht von Vittorio Veneto dann als entscheidend. Am 3. November 1918 drangen die italienischen Truppen durch die österreichischen Linien vor und zwangen sie zur Kapitulation.

Die drei Leichen, die 2004 auf San Matteo entdeckt wurden, stellen nur einen Bruchteil der Toten dar, die in den letzten Jahren in den Alpen geborgen wurden. Zwar wurden in den Gletschern und tückischen Gletscherspalten der Region über 80 Leichen gefunden, doch leider ist es fast unmöglich, viele von ihnen zu identifizieren.

Der physische Zustand der Leichen ist jedoch relativ unversehrt. Da sie jahrzehntelang im Eis eingefroren waren, sind viele Überreste vollständig mumifiziert, so dass DNA-Proben von guter Qualität leicht zu gewinnen sind. Da jedoch keine nationale DNA-Datenbank existiert, ist es nicht möglich, die Leichen mit lebenden Verwandten in Verbindung zu bringen.

Dennoch konnten die Wissenschaftler durch die Analyse der Überreste etwas über die Geschichte der Soldaten erfahren. Die meisten hatten beispielsweise eine beschädigte Wirbelsäule, die wahrscheinlich durch harte körperliche Arbeit verursacht wurde. Der forensische Anthropologe Daniel Gaudio sagte gegenüber National Geographic: "Sie kämpften, während sie unter Schmerzen litten, die wir heute als unerträglich ansehen würden."

Es wird auch vermutet, dass die drei in San Matteo geborgenen Leichen in Wirklichkeit von Bahrenträgern stammen könnten. Denn zu ihrer Ausrüstung gehörten Gürtel und eine Gasmaske, und ihre Taschen waren mit Verbandszeug gefüllt. Ansonsten waren die Toten jedoch unbewaffnet. Es wird daher angenommen, dass die Männer während der Schlacht von San Matteo am 3. September 1918 durch einen Granateneinschlag ums Leben gekommen sind.

Die Schlacht von San Matteo, die Ende des Sommers 1918 stattfand, war die letzte Schlacht um die Kontrolle über den Berg. Mehr als 80 Jahre lang galt sie als die höchste Schlacht der Menschheitsgeschichte - ein entscheidender Kampf in schwindelerregender Höhe von 3.678 Metern. Im Jahr 1999 wurde sie jedoch durch den Kargil-Konflikt in 5.600 m Höhe übertroffen.

Der Schlacht von San Matteo war eigentlich die Verstärkung der österreichisch-ungarischen Truppen auf dem Gipfel von San Matteo Anfang 1918 vorausgegangen. Die Stellung der Soldaten war also mit kleinen Artilleriegeschützen verstärkt worden, mit denen sie den Weg zum Gavia-Pass beschossen. Dadurch wurden die italienischen Konvois, die lebenswichtige Güter transportierten, unterbrochen.

Doch am 13. August 1918 startete ein kleines Alpini-Bataillon einen erfolgreichen Überraschungsangriff auf den österreichisch-ungarischen Posten. Etwa 50 Prozent der Kaiserschützen mussten sich daraufhin die Hänge hinunter zurückziehen. Die andere Hälfte wurde gefangen genommen. Doch das Kaiserreich wollte eine solch demütigende Niederlage nicht ungesühnt lassen. Bevor die Italiener ihre Verteidigungsanlagen sichern konnten, startete es einen Gegenangriff.

Mit dem Ziel, den Berg zurückzuerobern, startete das österreichisch-ungarische Militär am 3. September 1918 die Operation "Gemse". Der anschließende Angriff auf San Matteo begann mit einem schweren Artilleriebeschuss. Anschließend wurden Bodentruppen - etwa 150 Kaiserschützen - von einem in Dimaro stationierten Regiment entsandt. Es dauerte nicht lange, bis das Kaiserreich den Bahnhof zurückeroberte und den Sieg davontrug.

Aber die Schlacht von San Matteo war noch nicht ganz vorbei. Die Italiener glaubten, dass ihre Stellung verloren war, und begannen mit der Bombardierung des Gipfels. Und ihre Aktionen forderten auf beiden Seiten Opfer. Als sich der Rauch schließlich verzogen hatte, waren zehn Italiener und 17 österreichisch-ungarische Soldaten umgekommen - doch der Berg gehörte immer noch dem Kaiserreich. Es war schließlich der letzte Triumph Österreich-Ungarns.

Die Entdeckung der drei Leichen in San Matteo hat auch einige nachdenklich stimmende Reaktionen hervorgerufen. So sagte Nicolis gegenüber The Telegraph, dass sie sich "zeitgemäß anfühlen". Er sagte: "Sie kommen genauso aus dem Eis heraus, wie sie hineingegangen sind". Der relativ unberührte Zustand der Leichen deutet also auf einen Tod hin, der in jüngster Zeit stattgefunden haben könnte, was etwas beängstigend ist.

Heute jedoch sind die drei Leichen endlich beigesetzt worden. Sie liegen nun auf einem örtlichen Friedhof begraben, wo das wachsende Kriegsmuseum der Stadt an die Opfer beider Seiten erinnert. Angelo Dalpez - der Bürgermeister von Peio - erklärte gegenüber The Telegraph, dass die Gemeinde die Einrichtung als "kollektives Eigentum" betrachtet.

Im Jahr 2012 wurden zwei weitere Gebeine auf dem Friedhof beigesetzt. Es handelt sich vermutlich um 17 und 18 Jahre alte österreichische Soldaten, die im Mai 1918 in der Schlacht von Presena gefallen waren. Die Leichen wurden aufrecht in einer Gletscherspalte in der Nähe des Presena-Gletschers gefunden, ihre Schädel waren von Kugeln zerschmettert.

Bei der anschließenden Beerdigung in Peio wurden drei Hymnen gespielt - die österreichische, die italienische und die Ode an die Freude -, die den Geist des Internationalismus widerspiegeln, der das Fundament des modernen Europas bildet. In einem Gespräch mit The Telegraph im Jahr 2014 sagte Dalpez: "Die Menschen, die hier gekämpft haben, waren Europäer vor ihrer Zeit.

Traurigerweise wird es in Zukunft wahrscheinlich noch viele weitere Kriegsopfer geben, die aus dem Eis geborgen werden. Und auch wenn das Gedenken einen Hoffnungsschimmer für künftige Generationen darstellt - schließlich könnte das Vergessen der Kriegstoten Europa dazu verdammen, seine Fehler zu wiederholen -, sind die Berge um Peio unübersehbar todgeweiht. Wie der italienische Kriegsdichter Giuseppe Ungaretti einmal schrieb: "Schnee ist wahrlich ein Zeichen der Trauer".

Und was war das Ergebnis dieses Konflikts? Nun, 1919 wurde das Trentino im Rahmen des Vertrags von Saint-Germain-en-Laye an Italien angeschlossen. Für die dort lebenden Gemeinschaften änderte sich jedoch wenig. In den abgelegenen Bergen hatte man schon immer ein Gefühl der Autonomie und der Abgeschiedenheit von der Außenwelt. So ging das Leben trotz der Verluste und der Schrecken des Weißen Krieges weiter wie bisher.

Dennoch ist Peio ein Ort, der seine Geschichte nie vergessen hat. Denn bei den Leichen, die aus dem Eis auftauchten, handelt es sich nicht um namenlose historische Artefakte, sondern um lange verschollene Verwandte, die in dem wohl brutalsten aller Konflikte umgekommen sind. Maurizio Vicenzis eigene Familie - die auf der Seite der österreichisch-ungarischen Monarchie kämpfte - könnte durchaus mit den drei Männern, die er 2004 entdeckte, verwandt gewesen sein.